Otto Friedrich Bollnow    

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Letzte Änderung
Mar 7, 2010

 

Otto Friedrich Bollnow - Leben und Werk


vorgestellt von


Friedrich Kümmel




1. Lebensdaten


Otto Friedrich Bollnow wurde am 14. März 1903 in Stettin geboren. Sein Vater Otto Bollnow (1877-1959) war dort Lehrer und hatte am damaligen Aufbruch der Volksschullehrerschaft lebhaften Anteil genommen. Nach der Schulzeit in Stettin und Anklam (ab 1914 war der Vater Rektor in Anklam; siehe Anhang 1) begann Bollnow 1921 in Berlin das Studium der Architektur und wechselte nach einem Semester zur Physik und Mathematik. Seiner philosophischen Neigung entsprechend, hörte er in Berlin aber auch bei Eduard Spranger und Alois Riehl. 1923 führte er sein Studium in Greifswald fort und ging 1924 zu Max Born und James Frank nach Göttingen, wo er 1925 bei Max Born mit einer Arbeit über die Gittertheorie der Kristalle promovierte. Daneben hörte er bei den Diltheyschülern Georg Misch und Herman Nohl und nahm als Mitglied im "Skuld" lebhaften Anteil an der Jugendbewegung.
Während Max Born in den USA weilte, unterrichtete Bollnow an der Odenwaldschule von Paul Geheeb und lernte dort Martin Wagenschein kennen, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft verband. Starke Eindrücke von dieser Reformschule bestimmten ihn zu dem Entschluß, sich ganz der Philosophie und Pädagogik zuzuwenden. Er ging wieder nach Göttingen zurück, um bei Georg Misch und Herman Nohl weiterzuarbeiten und - auf Wunsch des Vaters - das Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien zu absolvieren.

Die Jahre 1927-1929 sind für Bollnow vor allem durch drei Publikationen wichtig geworden: das Erscheinen von Diltheys gesammelten Schriften Band VII (1927), Heideggers "Sein und Zeit" (1928) und Georg Mischs zum Buch ausgeweiteten Besprechungsaufsatz "Lebensphilosophie und Phänomenologie. Eine Auseinandersetzung der Diltheyschen Richtung mit Heidegger und Husserl" (1929/30). Im Erscheinen von "Sein und Zeit" lag der Grund dafür, daß Bollnow 1928/29 für drei Semester zu Heidegger nach Marburg und Freiburg ging. Daraufhin kehrte er im Herbst 1929 wieder nach Göttingen zurück, um an seiner Habilitationsschrift über "Die Lebensphilosophie F. H. Jacobis" zu arbeiten (Stuttgart 1933, 2. Aufl. 1966). Die Habilitation wurde 1931 abgeschlossen.
Es folgten 7 Jahre als Privatdozent in einer existentiell ungesicherten Lage. Die Diltheyschule, der Bollnow entstammt, galt als hoffnungslos relativistisch, und sein Lehrer Georg Misch war Jude - beides schlechte Karten für eine akademische Laufbahn in der Zeit des Dritten Reiches. Versuchte Anpassungsleistungen trugen keine Früchte. Erst 1938 erhielt Bollnow die Vertretung eines Lehrstuhls für Psychologie und Pädagogik an der Universität Gießen und wurde dort 1939 zum Ordinarius berufen. Es folgten Kriegsjahre als Soldat.

Nach der Stillegung der Universität Gießen kehrte Bollnow 1945 nach Göttingen zurück, um am Pädagogischen Institut von Herman Nohl weiterzuarbeiten. Doch ließen nun die Rufe nicht mehr länger auf sich warten. Nachdem eine Berufung nach Kiel sich zerschlagen hatte, folgte Bollnow im Anschluß an ein dortiges Vertretungssemester im Frühjahr 1946 einem Ruf an die Universität Mainz. 1953 übernahm er als Nachfolger von Eduard Spranger den Lehrstuhl für Philosophie und Pädagogik an der Universität Tübingen, der er trotz mehrfacher Rufe bis zu seinem Lebensende treu blieb.


2. Würdigung des Werks


Bollnows Vorlesungen als Göttinger Privatdozent galten Brentano, Kierkegaard, Dilthey, Kant, der Romantik und dem deutschen Idealismus, insbesondere der Spätphilosophie Schellings. Er beteiligte sich an der Edition der Gesammelten Schriften Diltheys und gab 1934 den Band IX: Pädagogik, heraus. 1936 folgte das Buch "Dilthey. Eine Einführung in seine Philosophie" (Leipzig 1936, in 4. Aufl. Schaffhausen 1980) Weitere Forschungsgebiete sind in den Aufsätzen aus dieser Zeit dokumentiert siehe das Schriftenverzeichnis)(

In Gießen konzentrierte sich Bollnows Arbeit im besonderen auf die Geschichte der Pädagogik des 17. bis 19. Jahrhunderts, die er im Zusammenhang mit der allgemeinen geistesgeschichtlichen Entwicklung darstellte. Von dem ins Auge gefaßten vierbändigen Projekt erschien jedoch nur der letzte Band: "Die Pädagogik der deutschen Romantik. Von Arndt bis Fröbel" (Stuttgart 1952, 3. Aufl. 1977). Zur Pädagogik des Barock, der Aufklärung und der Klassik liegen Vorlesungsmanuskripte und Aufsätze vor, die unter der Rubrik Zweite Abteilung, zweiter Teil: Aufsätze zur Pädagogik unter dem Titel "Vorlesungen und Aufsätze zur Geschichte der Pädagogik" in die Homepage eingestellt sind.

1941 erschien "Das Wesen der Stimmungen"(Frankfurt a. M. 1941, 7. Aufl. 1988), dessen Aussage Bollnow unter dem Eindruck der Kriegsereignisse als sein geistiges Testament empfunden hat. Im Kernansatz stellt das Werk eine Grundlegung der philosophischen Anthropologie dar, wobei Bollnow sich sowohl inhaltlich als auch unter methodischem Aspekt mit Heideggers Entwurf einer Fundamentalontologie in "Sein und Zeit" auseinandersetzt.
1943 folgt für die von Nicolai Hartmann herausgegebenen Reihe "Systematische Philosophie" eine Darstellung der "Existenzphilosophie"(1942), die ab der 2. Auflage als selbständige Publikation weitergeführt wurde (in 9. Auflage Stuttgart 1984). Als Pendant zu dieser Darstellung erschien später eine zusammenfassende Darstellung der "Lebensphilosophie" (Berlin Göttingen Heidelberg 1958)

Die Situation nach dem Zusammenbruch spitzte sich für Bollnow in der Frage zu, in welcher Weise sittliches Leben noch möglich ist, nachdem das Ethos der hohen Ideale im Nationalsozialismus seine äußerste Perversion erfahren hatte. Zusammen mit Wilhelm Flitner und Erich Weniger begründete er die Zeitschrift "Die Sammlung. Zeitschrift für Kultur und Erziehung", die in den Nachkriegsjahren eine große Verbreitung erfuhr (ab 1961: "Neue Sammlung"). Die von ihm hier publizierten Aufsätze wurden 1947 unter dem Titel "Einfache Sittlichkeit" (Göttingen 1947, 2. erw. Aufl. 1957, 4. Aufl. 1968)auch als Buch herausgegeben. Ein Ullstein-Taschenbuch über "Wesen und Wandel der Tugenden" (Frankfurt a. M. 1958 und fortlaufend nachgedruckt bis 1981) führt diese Gedankenlinie fort.

Zur Mainzer Tätigkeit und der damit verbundenen Öffnung nach Frankreich hin gehört auch Bollnows Beschäftigung mit dem französischen Existentialismus, die sich in zahlreichen Aufsätzen niederschlug. Unter dem Titel "Französischer Existentialismus"(Stuttgart 1965) wurden sie später zu einem Buch zusammengefaßt. Als zweites systematisches Hauptwerk nach dem "Wesen der Stimmungen" kann Bollnows Buch "Neue Geborgenheit. Das Problem einer Überwindung des Existentialismus" (Stuttgart 1955, 4. Aufl. 1979) gelten, das die geistige Situation der Zeit von einer anderen, zukunftsweisenden Seite her beleuchtet. Davon wird später noch die Rede sein. In denselben Zusammenhang gehört das Buch über "Rilke" (Stuttgart 1951, 2. Aufl. 1955)und eine intensive Auseinandersetzung mit anderen zeitgenössischen Dichtern, die in dem Buch "Unruhe und Geborgenheit im Weltbild neuerer Dichter. Acht Essays" (Stuttgart 1955, 3. Aufl. 1972) ihren Niederschlag gefunden hat.

In Tübingen angekommen galt es zunächst, den zahlreichen Pädagogikstudenten gerecht zu werden, die überwiegend aus der Volksschullehrerschaft stammend, den hier auch ohne Abitur möglichen Studiengang mit abschließender "Prüfung für den höheren Voklsschuldienst" belegten. Bollnow trägt dieser neuen Situation Rechnung mit einer Reihe von Arbeiten, die pädagogische Konsequenzen aus dem im "Wesen der Stimmungen" und der "Neuen Geborgenheit" grundgelegten Denken ableiten und das Programm einer "Pädagogischen Anthropologie" methodisch wie der Sache nach ausführen. Dazu gehören die Schriften "Existenzphilosophie und Pädagogik. Versuch über unstetige Formen der Erziehung" (Stuttgart 1959, 6. Aufl. 1984); "Die pädagogische Atmosphäre. Untersuchungen über die gefühlsmäßigen zwischenmenschlichen Voraussetzungen der Erziehung" (Heidelberg 1964, 4. Aufl. 1970, Neuauflage Bonn 2002); "Die anthropologische Betrachtungsweise in der Pädagogik" (Essen 1965, 3. Aufl. 1975); "Krise und neuer Anfang. Beiträge zur pädagogischen Anthropologie" (Heidelberg 1966). Vor dem Hintergrund seiner lebenslangen Beschäftigung mit dem Werk von Hans Lipps folgen Arbeiten über "Sprache und Erziehung" (Stuttgart 1966 (Urban TB 100), 3. Aufl. 1979)und das Büchlein "Die Macht des Worts. Sprachphilosophische Überlegungen aus pädagogischer Perspektive" (Essen 1964, 3. Aufl. 1971).

Die anthropologisch-pädagogische Grundlegung verlangt wiederum nach einer philosophischen Fundierung, zu der Bollnow sich auf die beiden bestimmenden Rahmenwerken konzentriert: Zeit und Raum einerseits, menschliche Erkenntnis andererseits. Zum ersten Rahmenwerk gehört eine Studie über "Das Verhältnis zur Zeit. Ein Beitrag zur pädagogischen Anthropologie" (Heidelberg 1972) und das Buch "Mensch und Raum" (Stuttgart 1963, 6. Aufl. 1990), das von allen Büchern Bollnows die höchsten Auflagen erreichte und neben dem Büchlein "Vom Geist des Übens. Eine Rückbesinnung auf elementare didaktische Erfahrungen" (Freiburg i. Br. 1978; 2. Aufl. Oberwil bei Zug 1987) über die Fachgrenzen hinaus Beachtung findet.
Das zweite Rahmenwerk arbeitet Bollnow aus in Form einer anthropologischen Grundlegung der "Philosophie der Erkenntnis, Erster Teil: Das Vorverständnis und die Erfahrung des Neuen" (Urban TB 126, Stuttgart 1970, 2. Aufl. 1981) mit der sich für ihn notwendig eine Erörterung über "Das Doppelgesicht der Wahrheit. Philosophie der Erkenntnis, Zweiter Teil" (Urban TB 184, Stuttgart 1975) verbindet.

Das Ganze mündet im Alterswerk schließlich aus in die Forderung nach einer "Hermeneutischen Philosophie", deren zukunftsweisenden Prospekt Klaus Giel in seinem Vortrag "Umrisse einer hermeneutischen Philosophie. Zwischen Phänomenologie und Lebensphilosophie" (abgedruckt in der Abteilung "Über Bollnow. Würdigungen") nachzuzeichen versucht hat. Sie ist zu unterscheiden von der "philosophischen Hermeneutik", wie sie von Schleiermacher grundgelegt war und von Heidegger und Gadamer weitergeführt worden ist. Bollnows hierzu publizierten Aufsätze konzentrieren sich auf Formen der "Beschreibung", die auch dem Unsagbaren zum Wort verhelfen will und sich dazu aus dem methodologisch enger gefaßten Bezugsrahmen einer philosophischen Hermeneutik und Kritik herauslösen muß. Hier wird für Bollow Georg Misch und Josef König noch einmal wichtig. Ziel seiner Bemühungen ist die Etablierung einer "Hermeneutischen Philosophie und Pädagogik" (so der Titel eines 1997 erschienenen Buches mit den Beiträgen eines Symposiums zum 90. Geburtstag 1993). Zunächst aber galt es für ihn, auch hier wiederum das Terrain zu sichten. Mit seinen teils älteren, teil neuen "Studien zur Hermeneutik, Band I: Zur Philosophie der Geisteswissenschaften" (Freiburg München 1982) und den "Studien zur Hermeneutik, Band II: Zur hermeneutischen Logik von Georg Misch und Hans Lipps" (Freiburg München 1983) griff Bollnow erneut in die aktuellen wissenschaftstheoretischen Kontroversen ein, nachdem er bereits zuvor die in den 60er Jahren einsetzende "empirische Wende" (W. Brezinka, Heinrich Roth u. a.) in der Erziehungswissenschaft von geisteswissenschaftlicher Seite her gewürdigt und ins rechte Maß gestellt hatte.

Ab 1979 und zunehmend bis zu seinem Tod am 7. Februar 1991 beschäftigte Bollnow sich, beunruhigt durch die eskalierende Umweltkatastrophe und besorgt über das Versagen in Ethik und Politik, eingehend mit dem Thema "Mensch und Natur"(so der Titel eines nicht veröffentlichten Manuskripts). Weder das ihm persönlich wichtige, seit der Antike mit dem Gebrauch der Vernunft verbundene Maßhalten noch die von anderen aufklärerischen Impulsen getragene Ethik einer "Ehrfurcht vor dem Leben" (Albert Schweitzer) haben der fortschreitenden Naturzerstörung seitens des Menschen Einhalt zu bieten vermocht. Daß die Suche nach einer von innen her wirksam werdenden Schranke im Umgang mit der Natur ins Leere läuft, hat für Bollnow - wie für den Buddhismus - mit der Egoverhaftetheit des Menschen und den damit verbundenen Grenzen seines Wissens und Verstehens zu tun. Während Dilthey noch davon ausgehen konnte, daß der Mensch nur das von ihm selbst Geschaffene verstehen könne und die Natur ihm fremd sei, muß nun auch das Naturverstehen zu einem zentralen Gegenstand hermeneutischen Denkens gemacht werden. Erst diese Öffnung ins Universelle vermag den Bann der Vorurteile zu sprengen. Daß die Natur uns fremd und die bewußte Kommunikation mit ihr unterbrochen ist, ist nun nicht mehr nur, wie bei Dilthey, eine schlichte Feststellung, sondern wird zum Skandal. Die Menschheit hat zwar gelernt, die Natur technisch zu manipulieren, gewissenlos auszubeuten und tendenziell zu zerstören; nicht aber kann und will der Mensch sie in ihrem Eigenwesen respektieren und leben lassen - und dies trotz aller Berufung auf ein integres und heiles, ja erlösendes Verhältnis zur Natur, wie es mit älteren Naturbegriffen und den daran geknüpften Heilserwartungen verbunden war. Nicht zuletzt hier führt Bollnows Bestreben, die Ausschließlichkeit europäischer Sicht- und Denkweisen zu überwinden, zu einer eingehenden Beschäftigung mit dem asiatischen Kulturbereich, vor allem mit Japan und Korea. Damit verbunden waren für ihn - neben der Betreuung zahlreicher Doktoranden - Vortrags- und Studienreisen in Japan (1958, 1966, 1972, 1978, 1980, 1984, 1986) und Korea (1966, 1984).

Aufklärung und Romantik, Lebensphilosophie und Existenzphilosophie, hermeneutische Phänomenologie und philosophisch Anthropologie haben Bollnows geistigen Horizont gebildet und sind durch ihn in ein spannungsreiches, dadurch aber auch produktiv werdendes Verhältnis zueinander gesetzt worden. Allem Systemdenken abhold, hat Bollnow durch seine Zusammenschau heterogener Perspektiven neue Denkbereiche und Wahrnehmungsweisen erschlossen.

Bollnows Arbeiten bündeln sich im Problemkreis einer philosophischen Anthropologie und Erkenntnislehre auf lebensphilosophischer Grundlage, wobei die Engführungen der Existenzphilosophie neue Akzente setzen. Im Sinne einer an den einzelnen Phänomenen ansetzenden Hermeneutik der menschlichen Lebenswirklichkeit deutet die philosophisch-anthropologische Fragestellung jedes einzelne Phänomen im Zusammenhang des Lebens als einer prinzipiell unabschließbaren Sinneinheit. Eine solche Perspektiven öffnende Fragestellung ist allen Menschenbildern abhold, die den Menschen auf eine bestimmte Daseinsform und Möglichkeit seiner selbst festlegen wollen. Wenn es keine gleichbleibende und formal herauslösbare Wesensstruktur des Menschen gibt, wird jede geschichtlich und kulturell ausgeprägte Lebenserscheinung konstitutiv für das Verständnis des Menschen im ganzen und hat gleichen Anspruch auf Gehör und Geltung. Der Mensch ist für Bollnow, wie für Helmuth Plessner, eine mit Selbstmacht verbundene "offene Frage", und nur eine solche kann dem "homo absconditus" auch gerecht werden.

Die aus einer solchen Öffnung der Frage nach dem Menschen resultierenden sachlichen und methodologischen Konsequenzen führten Bollnow schon früh zur Auseinandersetzung mit Martin Heidegger. Bollnow bestreitet den Vorrang bestimmter Phänomene, wie Heidegger sie in "Sein und Zeit" zum Leitfaden seiner fundamentalontologischen Analytik des Daseins gemacht hatte. So wesentlich die Kategorien der "Angst", der "Entscheidung" und "Eigentlichkeit" auch sind: sie müssen in ihrer Einseitigkeit korrigiert werden durch die andersartigen Erfahrungen der Wirklichkeit in den Stimmungen der Geborgenheit und des Glücks. Dabei geht es nicht um eine bloße Ergänzung, sondern vielmehr um die Einsicht, daß menschliches Leben ohne den positiven Bezug auf eine tragende Wirklichkeit, ohne Vertrauen und Hoffnung gar nicht möglich wäre. Weist schon die zeitgenössische Dichtung in die Richtung einer "heilen Welt" (Bergengruen), so ist es vor allem die pädagogische Erfahrung, daß das Kind sich nur in einem Raum der Geborgenheit durch das ihm vorbehaltlos entgegengebrachte Vertrauen entfalten kann und zur eigenen Selbständigkeit findet. Die Existenzphilosophie setzt bezüglich der conditio humana zu hoch an und übersieht ihre eigenen Voraussetzungen. Erst auf einem tragenden Untergrund wird die Freiheit zur Entscheidung realisierbar und kann die Bedrohtheit der menschlichen Wirklichkeit nicht nur ertragen, sondern im Sinne des Gut-Leben-Könnens bestanden werden. Geborgenheit meint dann nicht den Rückzug in eine vermeintliche Sicherheit und bezeichnet vielmehr die notwendige Bedingung, unter der die Spannung des Lebens ausgehalten und produktiv gemacht werden kann.

Während die Existenzphilosophie den Menschen von seiner Zeitlichkeit her versteht, mündet Bollnows Frage nach einer "neuen Geborgenheit" aus in eine Philosophie des "gelebten Raumes". Zu wohnen ist die eigentümliche Weise, wie der Mensch in der Welt ist. Damit ist ein schwer zu beschreibendes Verhältnis zur Wirklichkeit bezeichnet, das mit Begriffen wie Heimat, Vertrautheit, Identifikation usw. nur annähernd umschrieben ist und am ehesten dem entspricht, wie der Mensch seinen Leib hat bzw. - mit Merleau-Ponty gesprochen - in ihm wohnt. Das existenzphilosophische Problem der Selbstwerdung des Menschen in Freiheit erhält in der Frage nach deren realen Bedingungen erst seine tiefere Begründung. Sind Vertrauen und Hoffnung, Geborgenheit und Wohnen unerläßliche Bedingungen der Möglichkeit menschlichen Lebens, dann läßt sich das Anliegen der Existenzphilosophie nur in einer philosophischen Anthropologie bewähren, wie Bollnow sie in Angriff genommen hat.


3. Würdigung der Person


Ehrungen blieben für Bollnow nicht aus. Er war Ehrendoktor der Universität Strasbourg und Ehrenprofessor verschiedener japanischer Universitäten. Doch Personen verpflichten sich auf Gegenseitigkeit. Er selber hat aus gegebenem Anlaß zahlreiche Gedenkreden für Georg Misch und Herman Nohl, für Hans Lipps, Eduard Spranger, Wilhelm Flitner, Alfred Nitschke und andere ihm nahestehende Gelehrte gehalten. Die Treue gegenüber der eigenen geistigen Herkunft ist ein Wesenszug seiner Person, doch nie fand er sich unerachtet aller eigenen wie fremden Empfindlichkeiten zu einem gehässigen Schulenstreit bereit.

Von seinem Tübinger Kollegen und Freund Alfred Nitschke hat Bollnow als einem "menschlichen aller Menschen" gesprochen. Gleiches ließe sich auch über ihn selber sagen. Unmittelbar gegenwärtig war der Eindruck seiner Person als eines menschlichen Menschen im Umgang und Gespräch. Nicht unkompliziert und auch nicht ohne innere Gegensätzlichkeiten, löste Bollnow den eigeen Widerspruch auch wieder in sich selber auf und machte sich so zu einer tief integren Wirksamkeit nach außen frei. Humanität bedeutete für einfache Menschlichkeit verbunden mit äußerster Sachlichkeit, und indem beides sich in ihm verband, konnte er auch seinen Schülern im Sinne des sokratischen Helfers zu ihrem Eigenen verhelfen Wo gute Arbeit war, war sie des Lobs gewärtig, an schlechter aber litt er selbst am meisten mit.

Otto Friedrich Bollnow hat zu seiner Zeit Schule gemacht. Auch wenn es um ihn im öffentlichen Diskurs für eine Weile still geworden ist, lassen sich die vielfachen Auswirkungen nicht in Frage stellen, die sein Denken zu seiner Zeit hatte und weiterhin haben wird. Groß ist nach wie vor der stille Leserkreis, und schön was aus ihm gesprächsweise zurückkommt an Resonanz. Die Lektüre von Bollnows Schriften lohnt allemal. Sie sind auch für Nichtphilosophen gut lesbar und werden in ihrer auch lebenspraktisch relevanten Thematik durch den Fortgang der Zeit nicht widerlegt. Es gilt hier, was Rahel Varnhagen schreibt: "Richtig Eingesehenes und Ausgedrücktes in der Gegenwart, paßt zur Vergangenheit und Zukunft: und ist an diesem Zeichen sogar zu erkennen." (Ges. Werke Bd. III, München 1983, S. 68.)

Das gilt auch für den Stil Bollnows und seinen genauen Umgang mit dem Wort. Bollnow schrieb in seiner Zeit und für sie, ihre geistige Herausforderung in sich aufnehmend und mit Kraft, Feingefühl und Urteilfähigkeit beantwortend. Er schreibt unprätentiös, verständlich, klar und ist vielleicht auch deshalb von manchen Zeitgenossen wissentlich mißdeutet worden. Eine sensible Art seines Umgangs mit der Sprache, die jedem hohlen Wort und Jargon widersteht, machte er für sich und seine Schüler zur Pflicht. Weil man sich in der Sprache leicht versteigt und Unmenschlichkeit und Zwang sich auch in der Wissenschaftssprache einnisten kann, verzichtet Bollnow bewußt auf eine terminologische Festlegung und lehnt jede Systematik ab, die das allererst vermöge seiner Offenheit verbindlich werdende Gespräch gefährden könnte. Anregend an seinem Werk ist, daß es in der Aussage bestimmt ist und gleichzeitig nach allen Seiten hin offene Fäden auslegt. Unerachtet der durchgehaltenen Konsequenz im eigenen philosophischen Ansatz hat Bollnow immer nur einzelne Schritte gemacht. Er ist vielleicht gerade deshalb so produktiv geworden, weil er mit jedem Vorhaben neu einsetzte und nichts zu einer abschließenden Gestalt bringen wollte. Das Ganze ist für ihn nicht zu bestimmen, und wiewohl eine durchgängige Linie bei ihm erkennbar ist, läßt sich - auch im nachhinein - daraus keine Systematik ableiten. Das diszipliniert auch den Schüler, der älter als der Meister ist, wenn er die "offene Frage" und die "Erfahrung des Neuen" der Konsequenz des eigenen Denkens opfern möchte.

An bleibender Aktualität mangelt es dem Werk Bollnows nicht. Weit über die Fachgrenzen hinaus wirkt insbesondere sein Buch "Mensch und Raum", und auch für die Wichtigkeit der "Atmosphäre" und die Bedeutung der "Übung" wächst zunehmend ein allgemeines Bewußtsein heran. Schließlich kommt die sich durch das ganze Werk hindurchziehende Thematik der "Geborgenheit" und des "Heiteren", des "Heilen und Heilenden" einem wachsenden Bedürfnis entgegen, das sich auch durch den Hinweis auf die gleichzeitig gegebene Welt des Unfriedens und der Angst nicht mehr widerlegen lassen will. Vieles bei Bollnow spricht - wie der Aufsatz aus dem Jahr 1977: "Wächst das Rettende? Der Weg zum heilenden Heiteren (Heideggers Hölderlinarbeiten)" - tiefere Resonanzen an, in denen eine neue Zeit sich bekundet und zunehmend Ausdruck verschafft.

Und doch hat Bollnow sich allem Schwärmerischen gegenüber reserviert gezeigt und ist der geradsinnige und besonnene Aufklärer geblieben, der den Mächten des Irrationalen die Vernunft entgegensetzt und der Erziehung zur Urteils- und Friedensfähigkeit eine überragende Bedeutung zumißt. Die Forderung der Menschlichkeit hat den Primat vor der Notwendigkeit der Kritik. Was Bollnow will, läßt sich mit einem Wort sagen, das er zum Angedenken Alfred Nitschkes in einem Vortrag 1960 ausgesprochen hat: "Wo das Einfache wieder einfach geschieht, da ist Menschlichkeit."

Bollnow ist zeitlebens ein Schreiber gewesen und hat seine Freude am Gedruckten nie verhehlt. Das umfangreiche Werk umfaßt 38 Bücher, nahezu 300 Aufsätze, 193 Besprechungen und 13 Editionen. Viele seiner fast durchweg in mehreren Auflagen erschienenen Bücher sind in andere Sprachen übersetzt worden. Der ehrenvolle Eröffnungsvortrag auf dem International Green Forum in Osaka/Japan 1986 zum Thema "Die Stadt, das Grün und der Mensch", bildet den abschließenden Höhepunkt dieser Wirksamkeit über die Grenzen der Kulturen hinweg.

Wenn man die Bedeutung eines Lebens und Werks daran ablesen kann, was aus ihm wird, wäre es voreilig, ein abschließendes Urteil darüber geben zu wollen. In der "Enkelgeneration" hat die Rezeption des Bollnowschen Werkes gerade erst begonnen. Die Einrichtung dieser Homepage trägt dem Umstand Rechnung, daß es noch keine Gesamtausgabe gibt und die meisten Bücher vergriffen, die Aufsätze ohnehin nur schwer erreichbar sind. Hier werden nun sämtliche Schriften Otto Friedrich Bollnows einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht, und gleichzeitig dient ihre Digitalisierung zur Vorbereitung der Werkausgabe. Auch wenn die Texte dazu aus technischen Gründen umformatiert werden mußten, ist ihre Zitierfähigkeit nach dem Erstdruck gewährleistet.

Über das hier Gesagte hinaus enthält die Rubrik "Über Bollnow" weitere Hinweise zur Person und zum Werk. Auch auf die Rubrik "Bollnow-Gesellschaft" wird hingewiesen, die 2005 zur Pflege und wissenschaftlichen Bearbeitung von Bollnows Werk gegründet worden ist. Wir freuen uns über jedes neu hinzukommende Mitglied.