Die Jahre 1927-1929
sind für Bollnow vor allem durch drei Publikationen wichtig
geworden: das Erscheinen von Diltheys gesammelten Schriften Band
VII (1927), Heideggers "Sein und Zeit" (1928) und Georg Mischs zum
Buch ausgeweiteten Besprechungsaufsatz "Lebensphilosophie und
Phänomenologie. Eine Auseinandersetzung der Diltheyschen
Richtung mit Heidegger und Husserl" (1929/30). Im Erscheinen von
"Sein und Zeit" lag der Grund dafür, daß Bollnow 1928/29
für drei Semester zu Heidegger nach Marburg und Freiburg ging.
Daraufhin kehrte er im Herbst 1929 wieder nach Göttingen
zurück, um an seiner Habilitationsschrift über "Die
Lebensphilosophie F. H. Jacobis" zu arbeiten (Stuttgart 1933, 2.
Aufl. 1966). Die Habilitation wurde 1931 abgeschlossen.
Es folgten 7 Jahre als Privatdozent in einer existentiell
ungesicherten Lage. Die Diltheyschule, der Bollnow entstammt, galt
als hoffnungslos relativistisch, und sein Lehrer Georg Misch war
Jude - beides schlechte Karten für eine akademische Laufbahn
in der Zeit des Dritten Reiches. Versuchte Anpassungsleistungen
trugen keine Früchte. Erst 1938 erhielt Bollnow die Vertretung
eines Lehrstuhls für Psychologie und Pädagogik an der
Universität Gießen und wurde dort 1939 zum Ordinarius
berufen. Es folgten Kriegsjahre als Soldat.
Nach der Stillegung der Universität
Gießen kehrte Bollnow 1945 nach Göttingen zurück,
um am Pädagogischen Institut von Herman Nohl weiterzuarbeiten.
Doch ließen nun die Rufe nicht mehr länger auf sich
warten. Nachdem eine Berufung nach Kiel sich zerschlagen hatte,
folgte Bollnow im Anschluß an ein dortiges
Vertretungssemester im Frühjahr 1946 einem Ruf an die
Universität Mainz. 1953 übernahm er als Nachfolger von
Eduard Spranger den Lehrstuhl für Philosophie und
Pädagogik an der Universität Tübingen, der er trotz
mehrfacher Rufe bis zu seinem Lebensende treu blieb.
2. Würdigung des Werks
Bollnows Vorlesungen als Göttinger
Privatdozent galten Brentano, Kierkegaard, Dilthey, Kant, der
Romantik und dem deutschen Idealismus, insbesondere der
Spätphilosophie Schellings. Er beteiligte sich an der Edition
der Gesammelten Schriften Diltheys und gab 1934 den Band IX:
Pädagogik, heraus. 1936 folgte das Buch "Dilthey. Eine
Einführung in seine Philosophie" (Leipzig 1936, in 4. Aufl.
Schaffhausen 1980) Weitere Forschungsgebiete sind in den
Aufsätzen aus dieser Zeit dokumentiert siehe das
Schriftenverzeichnis)(
In Gießen konzentrierte sich Bollnows
Arbeit im besonderen auf die Geschichte der Pädagogik des 17.
bis 19. Jahrhunderts, die er im Zusammenhang mit der allgemeinen
geistesgeschichtlichen Entwicklung darstellte. Von dem ins Auge
gefaßten vierbändigen Projekt erschien jedoch nur der
letzte Band: "Die Pädagogik der deutschen Romantik. Von Arndt
bis Fröbel" (Stuttgart 1952, 3. Aufl. 1977). Zur
Pädagogik des Barock, der Aufklärung und der Klassik
liegen Vorlesungsmanuskripte und Aufsätze vor, die unter der
Rubrik Zweite Abteilung, zweiter Teil: Aufsätze zur
Pädagogik unter dem Titel "Vorlesungen und Aufsätze zur
Geschichte der Pädagogik" in die Homepage eingestellt
sind.
1941 erschien "Das Wesen der
Stimmungen"(Frankfurt a. M. 1941, 7. Aufl. 1988), dessen Aussage
Bollnow unter dem Eindruck der Kriegsereignisse als sein geistiges
Testament empfunden hat. Im Kernansatz stellt das Werk eine
Grundlegung der philosophischen Anthropologie dar, wobei Bollnow
sich sowohl inhaltlich als auch unter methodischem Aspekt mit
Heideggers Entwurf einer Fundamentalontologie in "Sein und Zeit"
auseinandersetzt.
1943 folgt für die von Nicolai Hartmann herausgegebenen Reihe
"Systematische Philosophie" eine Darstellung der
"Existenzphilosophie"(1942), die ab der 2. Auflage als
selbständige Publikation weitergeführt wurde (in 9.
Auflage Stuttgart 1984). Als Pendant zu dieser Darstellung erschien
später eine zusammenfassende Darstellung der
"Lebensphilosophie" (Berlin Göttingen Heidelberg 1958)
Die Situation nach dem Zusammenbruch spitzte
sich für Bollnow in der Frage zu, in welcher Weise sittliches
Leben noch möglich ist, nachdem das Ethos der hohen Ideale im
Nationalsozialismus seine äußerste Perversion erfahren
hatte. Zusammen mit Wilhelm Flitner und Erich Weniger
begründete er die Zeitschrift "Die Sammlung. Zeitschrift
für Kultur und Erziehung", die in den Nachkriegsjahren eine
große Verbreitung erfuhr (ab 1961: "Neue Sammlung"). Die von
ihm hier publizierten Aufsätze wurden 1947 unter dem Titel
"Einfache Sittlichkeit" (Göttingen 1947, 2. erw. Aufl. 1957,
4. Aufl. 1968)auch als Buch herausgegeben. Ein Ullstein-Taschenbuch
über "Wesen und Wandel der Tugenden" (Frankfurt a. M. 1958 und
fortlaufend nachgedruckt bis 1981) führt diese Gedankenlinie
fort.
Zur Mainzer Tätigkeit und der damit
verbundenen Öffnung nach Frankreich hin gehört auch
Bollnows Beschäftigung mit dem französischen
Existentialismus, die sich in zahlreichen Aufsätzen
niederschlug. Unter dem Titel "Französischer
Existentialismus"(Stuttgart 1965) wurden sie später zu einem
Buch zusammengefaßt. Als zweites systematisches Hauptwerk
nach dem "Wesen der Stimmungen" kann Bollnows Buch "Neue
Geborgenheit. Das Problem einer Überwindung des
Existentialismus" (Stuttgart 1955, 4. Aufl. 1979) gelten, das die
geistige Situation der Zeit von einer anderen, zukunftsweisenden
Seite her beleuchtet. Davon wird später noch die Rede sein. In
denselben Zusammenhang gehört das Buch über "Rilke"
(Stuttgart 1951, 2. Aufl. 1955)und eine intensive
Auseinandersetzung mit anderen zeitgenössischen Dichtern, die
in dem Buch "Unruhe und Geborgenheit im Weltbild neuerer Dichter.
Acht Essays" (Stuttgart 1955, 3. Aufl. 1972) ihren Niederschlag
gefunden hat.
In Tübingen angekommen galt es
zunächst, den zahlreichen Pädagogikstudenten gerecht zu
werden, die überwiegend aus der Volksschullehrerschaft
stammend, den hier auch ohne Abitur möglichen Studiengang mit
abschließender "Prüfung für den höheren
Voklsschuldienst" belegten. Bollnow trägt dieser neuen
Situation Rechnung mit einer Reihe von Arbeiten, die
pädagogische Konsequenzen aus dem im "Wesen der Stimmungen"
und der "Neuen Geborgenheit" grundgelegten Denken ableiten und das
Programm einer "Pädagogischen Anthropologie" methodisch wie
der Sache nach ausführen. Dazu gehören die Schriften
"Existenzphilosophie und Pädagogik. Versuch über
unstetige Formen der Erziehung" (Stuttgart 1959, 6. Aufl. 1984);
"Die pädagogische Atmosphäre. Untersuchungen über
die gefühlsmäßigen zwischenmenschlichen
Voraussetzungen der Erziehung" (Heidelberg 1964, 4. Aufl. 1970,
Neuauflage Bonn 2002); "Die anthropologische Betrachtungsweise in
der Pädagogik" (Essen 1965, 3. Aufl. 1975); "Krise und neuer
Anfang. Beiträge zur pädagogischen Anthropologie"
(Heidelberg 1966). Vor dem Hintergrund seiner lebenslangen
Beschäftigung mit dem Werk von Hans Lipps folgen Arbeiten
über "Sprache und Erziehung" (Stuttgart 1966 (Urban TB 100),
3. Aufl. 1979)und das Büchlein "Die Macht des Worts.
Sprachphilosophische Überlegungen aus pädagogischer
Perspektive" (Essen 1964, 3. Aufl. 1971).
Die anthropologisch-pädagogische
Grundlegung verlangt wiederum nach einer philosophischen
Fundierung, zu der Bollnow sich auf die beiden bestimmenden
Rahmenwerken konzentriert: Zeit und Raum einerseits, menschliche
Erkenntnis andererseits. Zum ersten Rahmenwerk gehört eine
Studie über "Das Verhältnis zur Zeit. Ein Beitrag zur
pädagogischen Anthropologie" (Heidelberg 1972) und das Buch
"Mensch und Raum" (Stuttgart 1963, 6. Aufl. 1990), das von allen
Büchern Bollnows die höchsten Auflagen erreichte und
neben dem Büchlein "Vom Geist des Übens. Eine
Rückbesinnung auf elementare didaktische Erfahrungen"
(Freiburg i. Br. 1978; 2. Aufl. Oberwil bei Zug 1987) über die
Fachgrenzen hinaus Beachtung findet.
Das zweite Rahmenwerk arbeitet Bollnow aus in Form einer
anthropologischen Grundlegung der "Philosophie der Erkenntnis,
Erster Teil: Das Vorverständnis und die Erfahrung des Neuen"
(Urban TB 126, Stuttgart 1970, 2. Aufl. 1981) mit der sich für
ihn notwendig eine Erörterung über "Das Doppelgesicht der
Wahrheit. Philosophie der Erkenntnis, Zweiter Teil" (Urban TB 184,
Stuttgart 1975) verbindet.
Das Ganze mündet im Alterswerk
schließlich aus in die Forderung nach einer "Hermeneutischen
Philosophie", deren zukunftsweisenden Prospekt Klaus Giel in seinem
Vortrag "Umrisse einer hermeneutischen Philosophie. Zwischen
Phänomenologie und Lebensphilosophie" (abgedruckt in der
Abteilung "Über Bollnow. Würdigungen") nachzuzeichen
versucht hat. Sie ist zu unterscheiden von der "philosophischen
Hermeneutik", wie sie von Schleiermacher grundgelegt war und von
Heidegger und Gadamer weitergeführt worden ist. Bollnows
hierzu publizierten Aufsätze konzentrieren sich auf Formen der
"Beschreibung", die auch dem Unsagbaren zum Wort verhelfen will und
sich dazu aus dem methodologisch enger gefaßten Bezugsrahmen
einer philosophischen Hermeneutik und Kritik herauslösen
muß. Hier wird für Bollow Georg Misch und Josef
König noch einmal wichtig. Ziel seiner Bemühungen ist die
Etablierung einer "Hermeneutischen Philosophie und Pädagogik"
(so der Titel eines 1997 erschienenen Buches mit den Beiträgen
eines Symposiums zum 90. Geburtstag 1993). Zunächst aber galt
es für ihn, auch hier wiederum das Terrain zu sichten. Mit
seinen teils älteren, teil neuen "Studien zur Hermeneutik,
Band I: Zur Philosophie der Geisteswissenschaften" (Freiburg
München 1982) und den "Studien zur Hermeneutik, Band II: Zur
hermeneutischen Logik von Georg Misch und Hans Lipps" (Freiburg
München 1983) griff Bollnow erneut in die aktuellen
wissenschaftstheoretischen Kontroversen ein, nachdem er bereits
zuvor die in den 60er Jahren einsetzende "empirische Wende" (W.
Brezinka, Heinrich Roth u. a.) in der Erziehungswissenschaft von
geisteswissenschaftlicher Seite her gewürdigt und ins rechte
Maß gestellt hatte.
Ab 1979 und zunehmend bis zu seinem Tod am 7.
Februar 1991 beschäftigte Bollnow sich, beunruhigt durch die
eskalierende Umweltkatastrophe und besorgt über das Versagen
in Ethik und Politik, eingehend mit dem Thema "Mensch und Natur"(so
der Titel eines nicht veröffentlichten Manuskripts). Weder das
ihm persönlich wichtige, seit der Antike mit dem Gebrauch der
Vernunft verbundene Maßhalten noch die von anderen
aufklärerischen Impulsen getragene Ethik einer "Ehrfurcht vor
dem Leben" (Albert Schweitzer) haben der fortschreitenden
Naturzerstörung seitens des Menschen Einhalt zu bieten
vermocht. Daß die Suche nach einer von innen her wirksam
werdenden Schranke im Umgang mit der Natur ins Leere läuft,
hat für Bollnow - wie für den Buddhismus - mit der
Egoverhaftetheit des Menschen und den damit verbundenen Grenzen
seines Wissens und Verstehens zu tun. Während Dilthey noch
davon ausgehen konnte, daß der Mensch nur das von ihm selbst
Geschaffene verstehen könne und die Natur ihm fremd sei,
muß nun auch das Naturverstehen zu einem zentralen Gegenstand
hermeneutischen Denkens gemacht werden. Erst diese Öffnung ins
Universelle vermag den Bann der Vorurteile zu sprengen. Daß
die Natur uns fremd und die bewußte Kommunikation mit ihr
unterbrochen ist, ist nun nicht mehr nur, wie bei Dilthey, eine
schlichte Feststellung, sondern wird zum Skandal. Die Menschheit
hat zwar gelernt, die Natur technisch zu manipulieren, gewissenlos
auszubeuten und tendenziell zu zerstören; nicht aber kann und
will der Mensch sie in ihrem Eigenwesen respektieren und leben
lassen - und dies trotz aller Berufung auf ein integres und heiles,
ja erlösendes Verhältnis zur Natur, wie es mit
älteren Naturbegriffen und den daran geknüpften
Heilserwartungen verbunden war. Nicht zuletzt hier führt
Bollnows Bestreben, die Ausschließlichkeit europäischer
Sicht- und Denkweisen zu überwinden, zu einer eingehenden
Beschäftigung mit dem asiatischen Kulturbereich, vor allem mit
Japan und Korea. Damit verbunden waren für ihn - neben der
Betreuung zahlreicher Doktoranden - Vortrags- und Studienreisen in
Japan (1958, 1966, 1972, 1978, 1980, 1984, 1986) und Korea (1966,
1984).
Aufklärung und Romantik,
Lebensphilosophie und Existenzphilosophie, hermeneutische
Phänomenologie und philosophisch Anthropologie haben Bollnows
geistigen Horizont gebildet und sind durch ihn in ein
spannungsreiches, dadurch aber auch produktiv werdendes
Verhältnis zueinander gesetzt worden. Allem Systemdenken
abhold, hat Bollnow durch seine Zusammenschau heterogener
Perspektiven neue Denkbereiche und Wahrnehmungsweisen
erschlossen.
Bollnows Arbeiten bündeln sich im
Problemkreis einer philosophischen Anthropologie und
Erkenntnislehre auf lebensphilosophischer Grundlage, wobei die
Engführungen der Existenzphilosophie neue Akzente setzen. Im
Sinne einer an den einzelnen Phänomenen ansetzenden
Hermeneutik der menschlichen Lebenswirklichkeit deutet die
philosophisch-anthropologische Fragestellung jedes einzelne
Phänomen im Zusammenhang des Lebens als einer prinzipiell
unabschließbaren Sinneinheit. Eine solche Perspektiven
öffnende Fragestellung ist allen Menschenbildern abhold, die
den Menschen auf eine bestimmte Daseinsform und Möglichkeit
seiner selbst festlegen wollen. Wenn es keine gleichbleibende und
formal herauslösbare Wesensstruktur des Menschen gibt, wird
jede geschichtlich und kulturell ausgeprägte Lebenserscheinung
konstitutiv für das Verständnis des Menschen im ganzen
und hat gleichen Anspruch auf Gehör und Geltung. Der Mensch
ist für Bollnow, wie für Helmuth Plessner, eine mit
Selbstmacht verbundene "offene Frage", und nur eine solche kann dem
"homo absconditus" auch gerecht werden.
Die aus einer solchen Öffnung der Frage
nach dem Menschen resultierenden sachlichen und methodologischen
Konsequenzen führten Bollnow schon früh zur
Auseinandersetzung mit Martin Heidegger. Bollnow bestreitet den
Vorrang bestimmter Phänomene, wie Heidegger sie in "Sein und
Zeit" zum Leitfaden seiner fundamentalontologischen Analytik des
Daseins gemacht hatte. So wesentlich die Kategorien der "Angst",
der "Entscheidung" und "Eigentlichkeit" auch sind: sie müssen
in ihrer Einseitigkeit korrigiert werden durch die andersartigen
Erfahrungen der Wirklichkeit in den Stimmungen der Geborgenheit und
des Glücks. Dabei geht es nicht um eine bloße
Ergänzung, sondern vielmehr um die Einsicht, daß
menschliches Leben ohne den positiven Bezug auf eine tragende
Wirklichkeit, ohne Vertrauen und Hoffnung gar nicht möglich
wäre. Weist schon die zeitgenössische Dichtung in die
Richtung einer "heilen Welt" (Bergengruen), so ist es vor allem die
pädagogische Erfahrung, daß das Kind sich nur in einem
Raum der Geborgenheit durch das ihm vorbehaltlos entgegengebrachte
Vertrauen entfalten kann und zur eigenen Selbständigkeit
findet. Die Existenzphilosophie setzt bezüglich der conditio
humana zu hoch an und übersieht ihre eigenen Voraussetzungen.
Erst auf einem tragenden Untergrund wird die Freiheit zur
Entscheidung realisierbar und kann die Bedrohtheit der menschlichen
Wirklichkeit nicht nur ertragen, sondern im Sinne des
Gut-Leben-Könnens bestanden werden. Geborgenheit meint dann
nicht den Rückzug in eine vermeintliche Sicherheit und
bezeichnet vielmehr die notwendige Bedingung, unter der die
Spannung des Lebens ausgehalten und produktiv gemacht werden
kann.
Während die Existenzphilosophie den
Menschen von seiner Zeitlichkeit her versteht, mündet Bollnows
Frage nach einer "neuen Geborgenheit" aus in eine Philosophie des
"gelebten Raumes". Zu wohnen ist die eigentümliche Weise, wie
der Mensch in der Welt ist. Damit ist ein schwer zu beschreibendes
Verhältnis zur Wirklichkeit bezeichnet, das mit Begriffen wie
Heimat, Vertrautheit, Identifikation usw. nur annähernd
umschrieben ist und am ehesten dem entspricht, wie der Mensch
seinen Leib hat bzw. - mit Merleau-Ponty gesprochen - in ihm wohnt.
Das existenzphilosophische Problem der Selbstwerdung des Menschen
in Freiheit erhält in der Frage nach deren realen Bedingungen
erst seine tiefere Begründung. Sind Vertrauen und Hoffnung,
Geborgenheit und Wohnen unerläßliche Bedingungen der
Möglichkeit menschlichen Lebens, dann läßt sich das
Anliegen der Existenzphilosophie nur in einer philosophischen
Anthropologie bewähren, wie Bollnow sie in Angriff genommen
hat.
3. Würdigung der Person
Ehrungen blieben für Bollnow nicht aus.
Er war Ehrendoktor der Universität Strasbourg und
Ehrenprofessor verschiedener japanischer Universitäten. Doch
Personen verpflichten sich auf Gegenseitigkeit. Er selber hat aus
gegebenem Anlaß zahlreiche Gedenkreden für Georg Misch
und Herman Nohl, für Hans Lipps, Eduard Spranger, Wilhelm
Flitner, Alfred Nitschke und andere ihm nahestehende Gelehrte
gehalten. Die Treue gegenüber der eigenen geistigen Herkunft
ist ein Wesenszug seiner Person, doch nie fand er sich unerachtet
aller eigenen wie fremden Empfindlichkeiten zu einem
gehässigen Schulenstreit bereit.
Von seinem Tübinger Kollegen und Freund
Alfred Nitschke hat Bollnow als einem "menschlichen aller Menschen"
gesprochen. Gleiches ließe sich auch über ihn selber
sagen. Unmittelbar gegenwärtig war der Eindruck seiner Person
als eines menschlichen Menschen im Umgang und Gespräch. Nicht
unkompliziert und auch nicht ohne innere Gegensätzlichkeiten,
löste Bollnow den eigeen Widerspruch auch wieder in sich
selber auf und machte sich so zu einer tief integren Wirksamkeit
nach außen frei. Humanität bedeutete für einfache
Menschlichkeit verbunden mit äußerster Sachlichkeit, und
indem beides sich in ihm verband, konnte er auch seinen
Schülern im Sinne des sokratischen Helfers zu ihrem Eigenen
verhelfen Wo gute Arbeit war, war sie des Lobs gewärtig, an
schlechter aber litt er selbst am meisten mit.
Otto Friedrich Bollnow hat zu seiner Zeit
Schule gemacht. Auch wenn es um ihn im öffentlichen Diskurs
für eine Weile still geworden ist, lassen sich die vielfachen
Auswirkungen nicht in Frage stellen, die sein Denken zu seiner Zeit
hatte und weiterhin haben wird. Groß ist nach wie vor der
stille Leserkreis, und schön was aus ihm gesprächsweise
zurückkommt an Resonanz. Die Lektüre von Bollnows
Schriften lohnt allemal. Sie sind auch für Nichtphilosophen
gut lesbar und werden in ihrer auch lebenspraktisch relevanten
Thematik durch den Fortgang der Zeit nicht widerlegt. Es gilt hier,
was Rahel Varnhagen schreibt: "Richtig Eingesehenes und
Ausgedrücktes in der Gegenwart, paßt zur Vergangenheit
und Zukunft: und ist an diesem Zeichen sogar zu erkennen." (Ges.
Werke Bd. III, München 1983, S. 68.)
Das gilt auch für den Stil Bollnows und
seinen genauen Umgang mit dem Wort. Bollnow schrieb in seiner Zeit
und für sie, ihre geistige Herausforderung in sich aufnehmend
und mit Kraft, Feingefühl und Urteilfähigkeit
beantwortend. Er schreibt unprätentiös,
verständlich, klar und ist vielleicht auch deshalb von manchen
Zeitgenossen wissentlich mißdeutet worden. Eine sensible Art
seines Umgangs mit der Sprache, die jedem hohlen Wort und Jargon
widersteht, machte er für sich und seine Schüler zur
Pflicht. Weil man sich in der Sprache leicht versteigt und
Unmenschlichkeit und Zwang sich auch in der Wissenschaftssprache
einnisten kann, verzichtet Bollnow bewußt auf eine
terminologische Festlegung und lehnt jede Systematik ab, die das
allererst vermöge seiner Offenheit verbindlich werdende
Gespräch gefährden könnte. Anregend an seinem Werk
ist, daß es in der Aussage bestimmt ist und gleichzeitig nach
allen Seiten hin offene Fäden auslegt. Unerachtet der
durchgehaltenen Konsequenz im eigenen philosophischen Ansatz hat
Bollnow immer nur einzelne Schritte gemacht. Er ist vielleicht
gerade deshalb so produktiv geworden, weil er mit jedem Vorhaben
neu einsetzte und nichts zu einer abschließenden Gestalt
bringen wollte. Das Ganze ist für ihn nicht zu bestimmen, und
wiewohl eine durchgängige Linie bei ihm erkennbar ist,
läßt sich - auch im nachhinein - daraus keine Systematik
ableiten. Das diszipliniert auch den Schüler, der älter
als der Meister ist, wenn er die "offene Frage" und die "Erfahrung
des Neuen" der Konsequenz des eigenen Denkens opfern
möchte.
An bleibender Aktualität mangelt es dem
Werk Bollnows nicht. Weit über die Fachgrenzen hinaus wirkt
insbesondere sein Buch "Mensch und Raum", und auch für die
Wichtigkeit der "Atmosphäre" und die Bedeutung der
"Übung" wächst zunehmend ein allgemeines Bewußtsein
heran. Schließlich kommt die sich durch das ganze Werk
hindurchziehende Thematik der "Geborgenheit" und des "Heiteren",
des "Heilen und Heilenden" einem wachsenden Bedürfnis
entgegen, das sich auch durch den Hinweis auf die gleichzeitig
gegebene Welt des Unfriedens und der Angst nicht mehr widerlegen
lassen will. Vieles bei Bollnow spricht - wie der Aufsatz aus dem
Jahr 1977: "Wächst das Rettende? Der Weg zum heilenden
Heiteren (Heideggers Hölderlinarbeiten)" - tiefere Resonanzen
an, in denen eine neue Zeit sich bekundet und zunehmend Ausdruck
verschafft.
Und doch hat Bollnow sich allem
Schwärmerischen gegenüber reserviert gezeigt und ist der
geradsinnige und besonnene Aufklärer geblieben, der den
Mächten des Irrationalen die Vernunft entgegensetzt und der
Erziehung zur Urteils- und Friedensfähigkeit eine
überragende Bedeutung zumißt. Die Forderung der
Menschlichkeit hat den Primat vor der Notwendigkeit der Kritik. Was
Bollnow will, läßt sich mit einem Wort sagen, das er zum
Angedenken Alfred Nitschkes in einem Vortrag 1960 ausgesprochen
hat: "Wo das Einfache wieder einfach geschieht, da ist
Menschlichkeit."
Bollnow ist zeitlebens ein Schreiber gewesen
und hat seine Freude am Gedruckten nie verhehlt. Das umfangreiche
Werk umfaßt 38 Bücher, nahezu 300 Aufsätze, 193
Besprechungen und 13 Editionen. Viele seiner fast durchweg in
mehreren Auflagen erschienenen Bücher sind in andere Sprachen
übersetzt worden. Der ehrenvolle Eröffnungsvortrag auf
dem International Green Forum in Osaka/Japan 1986 zum Thema "Die
Stadt, das Grün und der Mensch", bildet den
abschließenden Höhepunkt dieser Wirksamkeit über
die Grenzen der Kulturen hinweg.
Wenn man die Bedeutung eines Lebens und Werks
daran ablesen kann, was aus ihm wird, wäre es voreilig, ein
abschließendes Urteil darüber geben zu wollen. In der
"Enkelgeneration" hat die Rezeption des Bollnowschen Werkes gerade
erst begonnen. Die Einrichtung dieser Homepage trägt dem
Umstand Rechnung, daß es noch keine Gesamtausgabe gibt und
die meisten Bücher vergriffen, die Aufsätze ohnehin nur
schwer erreichbar sind. Hier werden nun sämtliche Schriften
Otto Friedrich Bollnows einer breiteren Öffentlichkeit
zugänglich gemacht, und gleichzeitig dient ihre
Digitalisierung zur Vorbereitung der Werkausgabe. Auch wenn die
Texte dazu aus technischen Gründen umformatiert werden
mußten, ist ihre Zitierfähigkeit nach dem Erstdruck
gewährleistet.
Über das hier Gesagte hinaus enthält
die Rubrik "Über Bollnow" weitere Hinweise zur Person und zum
Werk. Auch auf die Rubrik "Bollnow-Gesellschaft" wird hingewiesen,
die 2005 zur Pflege und wissenschaftlichen Bearbeitung von Bollnows
Werk gegründet worden ist. Wir freuen uns über jedes neu
hinzukommende Mitglied.
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